Gran Orquesta Alfredo De Angelis

Über wenige Gran Orquestas, die zum Kern-Repertoire tanzbaren Tango Argentino‘s gehören, gehen die Meinungen heute so weit auseinander wie über De Angelis. Es gibt Tänzer, welche De Angelis gar nicht zum Kern-Repertoire zählen. Oft taucht dann der Vorwurf auf, das sei anspruchsloses Jahrmarktsgedudel. Einzig die besten Valses von De Angelis werden kaum in Frage gestellt, oft sind das Vokal-Duette. Das ist jedoch zu kurz gedacht. De Angelis hat Tänzern wie Musikliebhabern sehr viel mehr zu bieten. Und dieses sehr viel mehr ist jetzt wieder hörbar geworden.  

Vieles, was bei bisherigen Restaurationen völlig aus dem Lot war und den damaligen Musikern und Sängern zu Unrecht angelastet wurde, fällt mit diesen Restaurationen wieder ins Lot, ganz von allein.

Diese Aufnahmen wurden von TangoTunes 2021 von Schellacks transferiert und völlig neu restauriert. De Angelis erstmals in dieser Qualität zu hören relativiert viele negative Ansichten zu diesem Gran Orquesta. Weil sich beim Hören manche offene Frage ganz von allein beantwortet. Vieles, was bei bisherigen Restaurationen völlig aus dem Lot war und den damaligen Musikern und Sängern zu Unrecht angelastet wurde, fällt mit diesen Restaurationen wieder ins Lot, ganz von allein. Wenn De Angelis‘ Eigenart vieler hoher Geigenklänge ein Kontrabass mit Fundament gegenüber steht und deutlich hörbar ist, wo Bass und Flügel unisono spielen, ergibt das eine klangliche Balance die zwar Geschmacksache bleibt, aber durchaus Sinn macht. Darüber kann man unterschiedlicher Ansicht sein, aber den Kopf darüber schütteln ist nicht länger legitim. Es gibt also viel zu entdecken – mit offenen Ohren und wachem Geist. 

Wenn De Angelis‘ Eigenart vieler hoher Geigenklänge ein Kontrabass mit Fundament gegenüber steht und deutlich hörbar ist, wo Bass und Flügel unisono spielen, ergibt das eine klangliche Balance die zwar Geschmacksache bleibt, aber durchaus Sinn macht.

Natürlich kann man De Angelis vorwerfen, seine Arrangements seien in den instrumentellen Parts zu häufig recht einfach gestrickt. Das war jedoch Absicht. De Angelis zielte bewusst auf maximale Breitenwirkung. Beeindruckend ist dagegen die Art und Weise, wie diese Arrangements seinen Sängern ein perfektes Fundament bieten, um sie glänzen zu lassen. De Angelis hebt seine Sänger damit musikalisch auf ein Podest. Dass De Angelis Sänger bis und mit Larroca ausgezeichnete Könner waren, hört man jetzt kristallklar. Sie schieben sich im Mix zudem klanglich etwas mehr in den Vordergrund, was in sich logisch ist. Denn genau diese Eigenart sängerischer Dominanz war das konsequent praktizierte Erfolgskonzept von De Angelis. Sogar Dante, neben Mauré bei D’Arienzo und Podestá bei Caló, Di Sarli und Laurenz eine der am schwierigsten zu reproduzierenden Stimmen der Época de oro, ist nun mit seinem ganzen Können zu hören.  

Floreal Ruiz

Zudem finden sich in der Chronologie De Angelis jede Menge an Aufnahmen, welche zwar etwas raffinierter arrangiert trotzdem dank instrumentaler Reduktion zwecks Hervorhebung des Gesangs-Parts großartig klingen, geradezu mitreißend. Wobei das nicht immer Titel sind, mit denen jeder Tänzer zurechtkommt. Dazu müssen Tänzer in der Lage sein, Pausen mit Spaß zu vertanzen und dem manchmal recht komplex phrasierenden Sänger mit den Füssen folgen zu können. Zudem trennen diese Restaurationen die unterschiedlichen Timbres der Stimmen in Duetten wie niemals zuvor.  

Carlos Dante

Ruiz, Martel, Dante und zu einem späteren Zeitpunkt auch Larroca erstmals so hören zu können, entschädigt für manche Eigenheit von De Angelis, die aus heutiger Sicht etwas gewöhnungsbedürftig ist. Sein Einsatz der Geigen mit vielen kurzen Tönen in hohen Lagen klingt heute oft ein wenig zu penetrant. Ein Aspekt übrigens, den schlechte Restaurationen und schlechte Audiotechnik verstärken, was dieses Gran Orquesta auf Konserven jahrzehntelang schlechter präsentierte, als es live tatsächlich musizierte. Auch das ist mit entsprechender Audiotechnik jetzt hörbar geworden. 

Damals war es im Aufnahmestudio üblich, das puristische Direktschnittverfahren der 78er zu manipulieren, damit die Aufnahme bei Wiedergabe etwas zu schnell spielte und damit etwas brillanter klang, als eigentlich authentisch. Damit wollte man den etwas dumpfen Klang mechanischer Grammophone daheim und Radiostationen auf Mittelwelle kompensieren, die neben Live-Auftritten damals auch transcription discs abspielten. Im Zusammenspiel mit bester heutiger Audiotechnik ist das ein Nachteil, der korrigiert werden muss, weil das Resultat dieser Manipulation zu einem unnatürlichen, verbogenen Grundklang von Instrumenten und Stimme führt. 

Julio Martel
Oscar Larroca

Wenn De Angelis‘ erstklassige Sänger auf einem Transfer schrill klingen und/oder einer Stimme der Brustkorb und damit das Fundament fehlt, liegt das fast immer an einem zu hoch angesetzten Kammerton beim Transfer – falls die Schellack von guter Qualität ist. Manchmal wurde zudem eine falsche Entzerrung gewählt. Dann heißt es nochmals ab Schellack neu transferieren, mit tieferem Kammerton und eventuell mit anderer Entzerrung. Es hat sich gezeigt, dass für diese Aufnahmen meist ein Kammerton um 435Hz herum zu besten Resultaten mit natürlichem, livehaftem Klangbild führt – zwecks Zeitmaschineneffekt mit Ganzkörpergänsehaut. 

Manche Restauratoren arbeiten für die Identifizierung des Kammertons mit Algorithmen, die im akademischen Umfeld entwickelt wurden. Die suggerieren, mit der Genauigkeit einer Stelle hinter dem Komma zu analysieren – also zB 438,3Hz. Das ist aber lediglich deren digitale Anzeige. So ein Algorithmus hat in der Analysepraxis je nach Musikmaterial und technischem Zustand des Audiofiles einen Unschärfefaktor von 5 bis 8Hz, was ihn für Tango Argentino disqualifiziert. Denn die Diskussion darüber, was der richtige Kammerton ist, bewegt sich im Tango Argentino meist zwischen 432 und 442Hz und damit häufig innerhalb der Messtoleranz des Algorithmus. Daher eignen sich solche Algorithmen entgegen den Versprechungen ihrer Entwickler lediglich für eine erste grobe Justierung. Die danach zwingend vorzunehmende Feinabstimmung kann einzig ein geschultes Ohr vornehmen, welches einen ganzheitlichen Fokus pflegt, anstatt sich in Details zu verlieren.   

Schlussendlich zählt einzig, ob die Tonkonserve eines Gran Orquesta begeisternd klingt und nicht was das Resultat irgendwelcher Messungen sein mag.

Weder Tänzer noch Musikliebhaber ziehen Vorteile aus einem akademisch korrekten Kammerton um 440Hz, der lediglich theoretisch korrekt ist. Denn der Preis für so eine Entscheidung ist zu oft ein unnatürlicher Klang, dem der Kern der musikalischen Faszination abhandengekommen ist, welche einen augenblicklich in die Musik hinein zu saugen vermag. Die Tätigkeit eines Tonmeisters wird immer ein Handwerk bleiben, welches zwar auf Theorie fußend aufbaut, sich im Alltag aber an der klanglichen Realität orientiert. Schlussendlich zählt einzig, ob die Tonkonserve eines Gran Orquesta begeisternd klingt und nicht was das Resultat irgendwelcher Messungen sein mag. Weil sich niemand je in eine Messung verlieben wird. Wer das nicht wahrhaben will, kann ja mal messen, ob er gut küsst.   

Natürlich stellt sich heute die Frage, warum De Angelis seine Aufnahmen damals so hell klingend realisiert hat. Denn er hat sich dabei garantiert was gedacht. Und über Geschmack lässt sich schwer streiten. Alles eine Frage schlechten Geschmacks? Mit dieser Meinung würde man De Angelis nicht gerecht. Über seine Beweggründe können wir heute lediglich mutmaßen. Aber es gibt Hinweise. Dazu werfen wir einen kurzen Blick auf die damaligen technischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Buenos Aires. 

Gran Orquestas und ihre Teamplayer hatten damals neben Tantiemen drei zentrale Einnahmequellen. Erster Schritt zu nachhaltigem Erfolg war ein regelmäßiges Engagement in einem Nachtlokal. Darauf folgte vielleicht irgendwann ein regelmäßiges Engagement an einem Radiosender. Nur die Besten schafften es, einen Plattenvertrag zu ergattern und jahrelang regelmäßig Schellacks zu veröffentlichen. Allerdings ist dieser Schritt nicht allen erstklassigen Gran Orquestas gelungen und einigen der besten leider nicht sehr lange.   

De Angelis war am Radio extrem erfolgreich und seine Plattenverkäufe waren überdurchschnittlich. Radiostationen sendeten damals auf Mittelwelle und die meisten Plattenkäufer verwendeten damals mechanische Grammophone, die mit Stahlnadel abtasteten, was die Schellacks schnell zerstörte. Resultat war in beiden Fällen ein eher dumpfes Klangbild, was viele Details unterschlug, obwohl die auf den Tonkonserven bestens archiviert worden waren. 

Zudem wurden Live-Aufnahmen im Radiostudio damals über Telefonleitungen zur meist am Stadtrand stehenden Sendestation übermittelt. Dabei wurde der Verlust mancher Frequenzen mittels Equalizer kompensiert. Das war damals technisch gekonnt umgesetzt. Trotzdem blieb bei diesem Vorgehen stets Klangqualität auf der Strecke, z.B. in der Form von Phasenverschiebungen, also Zeitfehlern. 

Nicht die Aufnahmen von damals stehen guter Wiedergabe im Weg, sondern schlecht gemachte Transfers und Restaurationen der letzten 60 Jahre. 

Gut möglich, dass De Angelis damals deshalb auf die Idee kam, die Arrangements so zu gestalten, dass all diese Defizite ein klein wenig wenigstens kompensiert wurden, indem er vor allem Geigen so einsetzte, dass sie häufig recht hell klangen. Wir nehmen so einen Einsatz von Geigen heute als zu schrill wahr. Solche Zusammenhänge bleiben natürlich Vermutung. Aber von der Hand zu weisen sind sie nicht. Und kompensieren lässt sich De Angelis Vorgehen heute nicht. Das würde uns auch nicht zustehen. 

TangoTunes arbeitet seit Jahren daran, möglichst viel Klangqualität aus 78ern von damals heraus zu kitzeln. Weil das Resultat dieser Anstrengungen eine völlig andere Wahrnehmung dieser alten Aufnahmen ermöglicht. Mit den De Angelis zeigt sich wieder mal: Nicht die Aufnahmen von damals stehen guter Wiedergabe im Weg, sondern schlecht gemachte Transfers und Restaurationen der letzten 60 Jahre. 

Einen großen Teil der Laufgeräusche der Schellackplatte entfernt TangoTunes nie. So ein maximal-invasives Vorgehen wäre ein krasser handwerklicher Fehler, weil Musik und Störungen sich zwangsläufig dasselbe Frequenzspektrum teilen. Daher lassen sich in der Praxis nur wenige Störungen entfernen, ohne gleichzeitig Musik irreversibel zu beschädigen. Sämtliche entsprechenden Algorithmen auf dem Markt versprechen in der Theorie Wunder, die sie in der Praxis niemals einzulösen vermögen. Das Gebot der Stunde ist bei ÉdO-Aufnahmen daher stets die Beschränkung auf minimal-invasive Eingriffe. Zudem liegt ein Großteil dieser Störungen ausgerechnet im Frequenzbereich von 3 bis 4kHz, wo das menschliche Gehör am besten hört – will heißen, jeden handwerklichen Fehler des Tonmeisters augenblicklich als besonders störend wahrnimmt, weil das unnatürlich klingt. 

Nach wie vor nehmen viele Restauratoren keine Rücksicht auf so elementare technische Zusammenhänge. Käufer bezahlen deren handwerklichen Fehler mit einem verhangenen und metallischen, verbogenen und detailarmen, unnatürlichen und hysterischen Klangbild, in dem die Dynamik und ganz besonders die Feindynamik des musikalischen und sängerischen Geschehens verloren gegangen ist, weil der Grundklang der Instrumente und das Timbre der Sänger kannibalisiert wurden. Was übrig bleibt ist lediglich ein Abklatsch der damaligen kreativen Leistung, eine Karikatur schlussendlich. So wenig Sorgfalt haben die Kreativen von damals genau so wenig verdient, wie Tänzer und Musikliebhaber heute.  

ÉdO-Aufnahmen sind Kulturgut und daher schützenswert. Es steht Restauratoren nicht zu, diese Aufnahmen zu manipulieren, um sie für heutigen Zeitgeist kastrativ zurecht zu stutzen. Auch, weil sie so garantiert ihre Faszination verlieren. Ziel von TangoTunes wird es daher immer sein, möglichst viel Klangqualität authentischer Natur aus diesen alten Aufnahmen heraus zu kitzeln, damit wir sie heute in ihrer ganzen Bedeutung und Qualität wiederentdecken können. Das sind wir den kreativen Überfliegern von damals schuldig. Es ist auch eine Frage des Respekts Alfredo De Angelis und seinen Mitstreitern gegenüber. 

Wo damalige technische Defizite heute Probleme verursachen, ist es legitim, diese ein Stück weit zu kompensieren. Aber nur solange so eine Einflussnahme den besonderen Charakter dieser Aufnahmen nicht mutiert. Es geht also immer auch um das Thema Werktreue. Die musikalisch-kreativen Intentionen eines jeden Gran Orquestas von damals sind auch heute zu respektieren und allenfalls mit Vorsicht ein klein wenig nur heraus zu arbeiten, wo das möglich ist, ohne anderswo im Musikgeschehen Unheil anzurichten.  

TangoTunes lädt mit diesen Restaurationen dazu ein, vor allem die großartigen Sänger von De Angelis dank neuer Transfers ab 78er und neuen Restaurationen neu zu entdecken. Sie werden für eine Neubewertung dieses Gran Orquestas sorgen. So toll hat De Angelis der 40er- und 50er-Jahre noch nie geklungen – in den letzten 60 Jahren. Es sei denn, jemand hat all diese Schellacks daheim im Regal stehen und weiß tatsächlich, wie man Schellacks technisch dazu verführt, all ihre Geheimnisse preiszugeben, um uns abheben zu lassen. Für alle anderen gibt es jetzt TangoTunes Restaurationen von De Angelis.   

Christian Tobler für TangoTunes im Juni 2021

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